Das Spiel des Lebens

Es wird nicht ganz so wortreich diesmal, sondern eher ein wenig besinnlich. Nicht ganz so philosophisch, sondern eher persönlich. Nicht ganz so kausalistisch, sondern eher narrativ. Die letzten Kolumnen waren vom Logos beherrscht. So nannten die alten Griechen das schlussfolgernde Wort. Für das erzählende Wort hatten sie ein anderes: Mythos. Heute gibt es mal Mythos. Um genau zu sein: Walkschen Familienmythos.

Onkel Wolfgang erzählt – buchstäblich – vom Krieg.

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Man macht sich ja so seine Gedanken zwischen den Jahren, und die scheinen, der Jahreszeit angemessen, zuweilen dunkel. Zumindest mögen sie in den einen oder anderen Ohren so klingen. Aber eigentlich verstehe ich sie als hell, von Humor durchzogen, von der Erkenntnis, dass alles nicht sooo wichtig ist. Vor allem nicht man selbst.

Das ganze Leben ist ein Spiel. Das habe ich schon mal gesagt. Wahrscheinlich mehrfach. Und ich war auch nicht der Erste. Es gibt unter anderem einen Song der Böhsen Onkelz mit dem Titel und den deutschen Titel eines Theaterstücks von Chabrol. Und wenn man den Satz zusammen mit „Zitat“ auf Google eingibt, dann wird man jede Illusion, da gerade einen originellen Gedanken gehabt zu haben, schnell verlieren. Irgendwer wird sicher einen alten Römer finden, der die Erkenntnis schon hatte, und hätten die Neandertaler Schriftkultur besessen: Es gäbe, da gehe ich jede Wette ein, eine entsprechende Überlieferung.

Das macht den Satz aber nicht falsch. Das Leben ist ein Spiel, nur über das Genre streiten sich die Gelehrten. Ist es ein Rollenspiel, ein Action-Adventure, ein Rätselspiel, eine Dating-, God- oder, wie unsere neoliberalen Anstandsallergiker glauben, eine WiSim? Mal dieses? Mal jenes? Das weiß keiner so genau. Und es ist nicht einmal immer klar, ob man Spieler ist, oder Spielfigur. Nur in einem sind sich eigentlich alle einig, auch wenn kaum jemand es ausspricht: Es ist ein rogue-like. Es endet ganz sicher mit dem Tod.

„If you want a happy ending, that depends, of course, on where you stop your story!“ hat Orson Welles mal gesagt. Man muss eine Geschichte nur lang genug erzählen, dann endet sie unweigerlich mit dem Tod ihres Protagonisten.

Ich möchte zum Beginn eines neuen Jahres die Geschichte zweier Männer erzählen, die beide bereits längere Zeit tot sind: eine Geschichte meines Vaters und seines Vaters, meines Großvaters also. Der wurde 1887 geboren und das rogue-like namens Leben hatte ihm ein frühes Game Over in den Schützengräben der Westfront des ersten Weltkriegs in Aussicht gestellt. Ich hatte Euch ja gesagt, ich würde vom Krieg erzählen. Ihr ward gewarnt!

Der erste Weltkrieg. Das rogue-like, das Wolfgangs Großvater spielte, würde mit großer Wahrscheinlichkeit bald den „Game Over!“-Schirm anzeigen. (Bild: Wikimedia Commons)

26-jährig zog er gen Westen, 30-jährig kam er wieder: Verdun und wie die Schlachthöfe alle hießen, er hatte sie – zumindest körperlich – überstanden. Die Briefe aus dem Schützengraben an seine Verlobte, meine spätere Großmutter, sind überliefert: sauberstes Sütterlin, ohne irgendeine orthografische Schwäche. Nur das Verb „kriegen“ schrieb er immer mit „g“ am Anfang: „griegen“. Und vom Krieg selbst schrieb er nie. Vielleicht ging so damals klammheimlicher Pazifismus?

Ein Schrapnell blieb im Oberschenkel. Aber der Bauernjunge Wilhelm Walk war der einzige Überlebende der Stammbesetzung seiner Kompanie. Und der Zweitbesetzung. Und der Drittbesetzung. Er gewann diese große, tödliche Lotterie, kam zurück, gründete eine Familie (wir Walks heiraten spät, aber wir heiraten), bekam noch sieben Kinder, von denen 5 das Erwachsenenalter erreichten – und erlebte allerdings keines seiner 16 Enkelkinder mehr.

Sein dritter Sohn, Winfried, 1927 geboren, ist mein Vater. Bevor er allerdings den kleinen Wolfgang im Arm hielt, hatte auch er in diesem rogue-like ein paar Level zu überstehen, die nicht auf Schwierigkeitsgrad „easy“ standen. 1943, er war gerade 16, befand er sich in Kassel als Flakhelfer, als am 22. Oktober die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde. Seine Batterie wurde getroffen, er sah Schulkameraden sterben. Und anschließend wurden die Jungs, die zumeist noch keinen Bartwuchs hatten und kurz vorher noch zusehen mussten, wie Freunde in Stücke gerissen werden, in die vernichtete Stadt geschickt, um Menschen aus den Kellern zu holen. Manchmal lebten die noch.

Was von Kassel übrig blieb. (Bild: kassel.de)

Krieg sei der Vater aller Dinge, meinten die Römer. Auch denen soll man nicht alles glauben.

Wenige Monate später meldete mein Vater sich freiwillig zur Wehrmacht, um der Zwangsrekrutierung durch die SS zu entgehen. Da er ins Gymnasium ging, wurde er Reserveoffizieranwärter und kam im Winter 44/45 auf Lehrgang ins halbwegs sichere Dänemark. Dort hatte er weit weniger Feuer zu erdulden als sein Vater 30 Jahre zuvor, aber das, so die Planung der obersten Heeresleitung, sollte nicht ewig dauern. Als der Lehrgang seinem Ende zuging, wurde die gesamte Ausbildungskompanie auf dem Appellplatz zusammen gerufen und ihr mitgeteilt, dass sie für den Heldentod bei der Verteidigung der „Festung“ Breslau vorgesehen war.

Mein Vater erzählte mir später: „Ich war 17 und wusste, dass mein Leben zu Ende war.“

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